Biederitzer Kantorei
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Europäische Chorpartnerschaften und die Europäische Chornacht in St. Petri zu Magdeburg

Von Katharina Berger und Reinhard Szibor, 2013

Erschienen in: Vom Sängerchor des Schulinspektors Carl-Leberecht Messow bis zur Biederitzer Kantorei des Kantors Michael Scholl

Anspruchsvolle Chorprojekte und Konzerte kosten Geld – für die Musiker und die Solisten, für Werbung, Ausgestaltung usw. Der Chorvorstand der Biederitzer Kantorei zerbricht sich ständig den Kopf darüber, wie die Kosten zu schultern sind. Daher halten alle die Augen auf, wo es Fördermittel geben könnte. Bei dieser Aufmerksamkeit entging den Vorstandsmitgliedern nicht, dass es für Projekte im Rahmen der Europawoche Anfang Mai jeden Jahres Zuwendungen von der Landesregierung für europabezogene Aktivitäten gibt. So zerbrach man sich die Köpfe, was man europäisch machen könnte und kam auf die Idee, im Rahmen der Europawoche ein Konzert gemeinsam mit einem ausländischen Chor zu gestalten.

Aber wie kommt man an einen Chor aus dem Ausland ran? Aufgrund einer Anfrage eines spanischen Chores, der für europäische Projekte einen Partner suchte, wurde im Jahr 2000 ein erster Kontakt zum Kathedralchor Málaga, dem Sancti Petri Collegium Musicum Málaga, aufgenommen und zur ersten europäischen Chornacht für Mai 2001 nach Magdeburg eingeladen. Damit die Sache rund wird, wurde kurzerhand gleich der gesamte Biederitzer Musiksommer im Jahr 2001 europäisch betitelt: „Das tönende Land: Euro Visionen“.
Die Spanier kamen, sangen und siegten! Mit ihrer so anders gearteten Singweise, mit ihrer angeborenen Musikalität, mit ihrer Freude und ihrer Spontaneität eroberten sie sofort unsere Herzen. Die gemeinsame Aufführung des Chorwerkes „Die Sieben Worte Jesu am Kreuz“ von César Franck war in besonderes Erlebnis und eine deutsch-spanische Chorpartnerschaft war geboren. In ihrer Folge führten uns zwei Gegenbesuche nach Málaga, wo wir Málaga und Cordoba kennenlernten und gemeinsame Konzerte mit unseren spanischen Freunden in der Sankti Petri Kathedrale aufführten. Abends versuchten wir nach reichlich Paella und spanischem Wein genauso wie die Spanier Flamenco zu tanzen, leider fehlte den meisten von uns das entsprechende Gen. Aber zuschauen und im Takt mit zu klatschen war auch schon eine Rhythmusübung erster Güte. Unvergesslich sind die Stunden mit spanischem Wein und Gesang Ende Oktober 2004 am nächtlichen Strand von Málaga, wo zumindest die im Osten Deutschlands sozialisierten Chormitglieder sich erinnerten, dass sie in ihrer der Pionier- und FDJ das Kampflied „Spaniens Himmel breitet seine Sterne …“ lernen mussten und dies auch noch konnten. Was lag näher augenzwinkernd solche alten martialischen Gesänge an Ort und Stelle anzustimmen.

Unsere spanischen Freunde besuchten uns noch einmal im Jahr 2006 und sangen mit uns gemeinsam in der Europäischen Chornacht die „Missa solemnis“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Beide Chöre hatten sich auf dieses Werk vorbereitet, in gemeinsamen Proben kurz vor dem Konzert wurden die Chöre zusammengeschweißt und die Aufführung wurde ein großer Erfolg. Bei einem späteren Gegenbesuch hatten wir die Gelegenheit, in der wunderbaren Kathedrale von Málaga das gleiche Stück nochmal mit dem Kathedralchor aufzuführen. Es war ein sehr eindrucksvolles Erlebnis.

Leider ist der Kontakt zu den Sängerinnen und Sängern aus Málaga eingeschlafen. Der spanische Chor rekrutierte sich aus einigen Stammsängern und vielen Studentinnen und Studenten der Universität von Málaga, wo Quintin Calle Carabias, der Chorleiter, als Dozent tätig war. Immer weniger Studenten sangen im Chor mit, Stammmitglieder schieden aus und die gegenseitigen Besuche kosten Geld, so dass die Situation des Chores eine Fortführung der gemeinsamen Konzerte nicht zuließ.

Aber allen Sängerinnen und Sänger der Biederitzer Kantorei, die den Austausch miterlebt haben, bleiben die schönen Erinnerungen an das sonnige Spanien und temperamentvolle Stunden.

Die guten Erfahrungen mit dem Chor aus Málaga inspirierte die Mitglieder der Biederitzer Kantorei, nach weiteren möglichen Gästen für die Europäische Chornacht Ausschau zu halten, denn es sollte ja nun jedes Jahr eine europäische Chornacht geben. So fragte Andreas Pesch, Tenor, seine in Italien lebende Schwester, ob sie nicht einen Chor kennt, den wir zur europäischen Chornacht 2002 einladen könnten. Sie vermittelte den Kontakt zu einem Chor aus Palestrina, einer kleinen Stadt in der Nähe von Rom und Geburtsort des gleichnamigen Komponisten aus dem 16. Jahrhundert. Der hatte sich nach dieser Stadt benannt, in der er tätig war und von wo aus Weltruhm erlangt hatte. Das war in der Renaissancezeit so üblich.

Die Mitglieder des Coro Polofinico de Palestrina mit ihrem Leiter Maurizio Sebastianelli überraschten uns zur Chornacht 2002. Als wir die italienischen Gäste in Biederitz erwarteten, tauchte ein schwarzhaariger junger Mann auf, ganz in schwarzes Leder gekleideter und die gegélten Haare sorgfältig frisiert. Das war Maestro Sebastianelli, umschwärmt von den Damen und begleitet von den Herren des Chores. Sie sangen ihren Teil der Europäischen Chornacht 2001 in wunderbarem Stil und begeisterten die Zuhörer. Ein Ausflug nach Berlin gemeinsam mit Mitgliedern der Biederitzer Kantorei und fröhliche Abende schufen weitere Verbindungen zwischen den beiden Chören. So folgten wir gern der Aufforderung zu einem Gegenbesuch nach Italien, wo wir im Jahr 2003 Konzerte in Rom und Palestrina gaben und die so andere Art des Umgangs mit Kunst durch das Publikum kennen lernten: während Deutsche andächtig und still einem Konzert folgen und diszipliniert dann klatschen, wenn der Dirigent durch seine Gesten anzeigt, dass dies nun geschehen könne, kommt und geht der Italiener, wann es ihm beliebt, klatscht, wenn ihm etwas ausgesprochen gut gefällt und unterhält sich mit seinem Nachbarn, wenn ihm danach ist. Das kannten wir so noch nicht, doch die spontanen Beifallsbekundungen gefielen uns sehr!
Maurizio Sebastianelli sandte an Michael Scholl zwei seiner Kompositionen: das „Miserere su BACH“ und „Salvator mundi, salva nos“, beides ungewöhnliche und sehr eindrucksvolle, und etwas „schräge“ Stücke, die uns sehr gefielen und die auch mehrere Jahre zum Repertoire der Biederitzer Kantorei gehörten.

Schon im Jahr 2004 konnten wir den Chor aus Palestrina noch einmal zur Europäischen Chornacht begrüßen, gemeinsam das Konzert zur Europäischen Chornacht gestalten und schöne Tage zusammen verbringen. Danach riss der Kontakt leider ab.

Wir mussten uns nun nach anderen Chören umschauen, die wir zur Europäischen Chornacht einladen könnten, denn dieses Konzert mit Gastchören aus anderen Ländern hatte sich zum festen Bestandteil des Biederitzer Musiksommers entwickelt. Sachsen-Anhalt hat mehrere Partnerregionen, mit denen der Austausch auf allen Ebenen bevorzugt gefördert wird. Warum also nicht in diesen Regionen nachfragen, ob man auf interessierte Chöre stößt? Über Krzysztof Blau, Vorsitzender der Deutsch-Polnischen Gesellschaft in Sachsen-Anhalt, wurde der Kontakt zur polnischen Stadt Radom, der Hauptstadt der Region Masowien und Partnerstadt von Magdeburg, aufgenommen. Von dort kam zur Europäischen Chornacht 2008 der Stadtchor von Radom, Sancti Petri Collegium Musicum. Die Sängerinnen und Sänger beider Chöre verstanden sich auf Anhieb. Die Unterbringung in den Familien der Mitglieder der Biederitzer Kantorei verstärkte die persönlichen Beziehungen und manche gute Freundschaft entstand, die beim gemeinsamen Musizieren, Ausflügen und Feiern weiter vertieft wurde.
Beim Gegenbesuch im Jahr 2010 in Radom wurden wir mit großer Herzlichkeit von unseren polnischen Freunden empfangen und genossen die Gastfreundschaft sehr. Beim Fußball- und Volleyballspielen mit den Familien und beim gemeinsamen Singen von Händels „Halleluja“ im strömenden Regen beim Grillfest in Radom fühlten wir uns wie eine Familie. Reich beschenkt wurden wir von unseren polnischen Freunden nach unserem Konzert in ihrer Kirche mit Blumen und mit lobenden Glückwünschen, die wir auf unserer Heimreise mitnahmen.
Zwei Jahre später, zur Europäischen Chornacht 2012, konnten wir unsere Freunde aus Radom wieder in Biederitz und Magdeburg begrüßen und musizierten und feierten wieder gemeinsam in alter Freundschaft. Im Jahr 2014 wird die Biederitzer Kantorei zum Gegenbesuch nach Radom reisen. Wir freuen uns schon auf das Wiedersehen mit den Radomer Sängerinnen und Sängern.

Es gibt keinen Zwang, dass zur Europäischen Chornacht jedes Mal ein ausländischer Gastchor auftritt. Es können auch deutsche Chöre sein. So waren weitere Gäste zur Europäischen Chornacht die Jacobi-Kantorei aus Göttingen (2007) und die die Jungen Vokalisten Wernigerode (2010). Aber dennoch ging es meist international zu. Im Jahr 2009 hatte der eigentlich für die Europäische Chornacht eingeladene Chor aus Schweden kurzfristig abgesagt: Zufällig war gerade der Speghani-Chor aus Jerewan in Armenien in Halle zu Gast. Wir waren sehr froh, dass dieser Chor, der sich aus Kindern und Jugendlichen rekrutiert, kurzfristig einspringen konnte. Die Lebenssituation dieser Sängerinnen und Sänger ist bedrückend, denn sie sind auf unterschiedliche Weise von dem Krieg im Kaukasus betroffen. Es sind zum größten Teil Waisen, die in ein soziales Projekt eingebunden sind, das diesen jungen Menschen u. a. durch diese Chorgemeinschaft eine lebenswerte Zukunft eröffnen will. Die Leitung des Chores ist sehr professionell und die Leistung des Chores ist hervorragend. Der Auftritt dieses Jungen Ensembles zur Europäischen Chornacht, gehörte zu den anrührendsten Erlebnissen, die wir je durch eine Veranstaltung der Biederitzer Kantorei erlebt haben! Dies war aber nicht nur der Kenntnis ihrer Situation geschuldet sondern insbesondere der hohen musikalischen Qualität!

Man muss sagen, dass wir mit unserer Europäischen Chornacht auch immer sehr viel Glück hatten, denn zum Zeitpunkt der Einladung kannten wir ja diese Chöre nie. Dass wir trotzdem bisher immer qualitativ hervorragende Chöre zu Gast hatten, grenzt an ein Wunder! Beeindruckend waren auch die Gastchöre, Cassiopée aus Tours, Frankreich (2012) und der Chor der Evangelischen Salvatorkirche in Prag (2013). Cassiopée ist ein Frauenchor mit einer wunderbaren Gesangskultur und der Chor der Salvator Kirche in Prag ist der Biederitzer Kantorei vom Anspruch und Repertoire sehr ähnlich, nur zahlenmäßig kleiner.

Dass die Biederitzer Kantorei von den meisten ihrer Gastchöre zum Gegenbesuch eingeladen wird, ist für uns wunderbar. Aber natürlich gibt es oft auch Finanzierungsprobleme, so dass manchmal daraus nichts wird, aber das ist für uns kein Problem. Unser Ziel besteht nicht darin, eine hohe Reisetätigkeit zu organisieren, sondern unserem Publikum niveauvolle Europäische Chornächte mit überraschenden Klängen anzubieten. Das ist uns bisher immer gelungen!

Seit dem Jahr 2006 ist Dr. Horst Schnellhardt, Mitglied im Europäischen Parlament aus Sachsen-Anhalt, Schirmherr der Europäischen Chornacht, worauf wir sehr stolz sind. Es ist ihm ein persönliches Anliegen, die Konzertbesucher regelmäßig selbst zu begrüßen und die völkerverbindende Rolle der Musik zu betonen. Er ist ein gern gesehener Gast zu unseren Konzerten und Ehrenmitglied der Biederitzer Kantorei.

Auf seine Einladung hin waren die Sängerinnen und Sänger auf europäischen und künstlerischen Bildungsreisen in Brüssel (2006), Luxemburg (2008) und Straßburg (2011) und haben europäische Einrichtungen besucht und deren Arbeit kennen gelernt. Diese Europareisen genauso wie die Besuche bei den befreundeten Chören in Spanien, Italien und Polen haben die Sängerinnen und Sänger der Kantorei weiter zusammengeschweißt.